
Finanzialisierung
Profit über Gemeinwohl
- Immer mehr Bereiche des Lebens werden der Logik der Finanzwelt unterworfen.
- Was eine Firma tatsächlich macht und welchen Nutzen sie für die Gesellschaft hat, spielt so kaum noch eine Rolle. Alles wird auf maximalen kurzfristigen Profit getrimmt.
- Vier Beispiele illustrieren die Auswirkungen der Finanzialisierung: Wohnen, Gesundheit, Wasser und Agrarland.
An den Finanzmärkten ist klar: Es geht darum, möglichst schnell möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Dabei gehört Spekulieren zum Tagesgeschäft. Egal ob Gold, Aktien oder Derivate, rund um die Uhr wird auf die Preisentwicklung von Vermögenswerten gewettet – mit der realen Welt hat das oft wenig zu tun.
Lange waren Finanzmarktakteur*innen mit dieser Logik überwiegend in der Finanzwelt unterwegs. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das grundlegend verändert. Immer mehr Lebensbereiche werden systematisch von ihnen erobert. Dieses Phänomen wird als Finanzialisierung bezeichnet.
Die Qualität von Warenproduktion oder Dienstleistungen ist dabei immer weniger wichtig: Was die Firma eigentlich macht und wie gut sie es macht, spielt kaum noch eine Rolle für Investor*innen. Vielmehr geht es darum, aus den Unternehmen so viel Geld wie möglich zu ziehen.
Finanzialisierung auf dem Vormarsch
Die Finanzialisierung bestimmt schon jetzt einen großen Teil der Wirtschaft: In den letzten 20 Jahren hat sich die Größe des Finanzsektors im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung in der Eurozone verdoppelt. Und das hat Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen.
Die wachsende Finanzialisierung basiert darauf, dass Finanzinvestor*innen Unternehmen in Sektoren aufkaufen, die nicht ausreichend reguliert sind. Das gilt auch für Bereiche, in denen es eigentlich um die Daseinsvorsorge geht – wie Wohnen, Gesundheit, Wasser und Agrarland. Güter und Dienstleistungen, die für die gesamte Gesellschaft wichtig sind, werden so immer mehr zu Spekulationsobjekten.
Das ist gefährlich, denn die kurzfristigen Profitinteressen der Finanzinvestor*innen stehen oft im Gegensatz zu langfristigen gesellschaftlichen Zielen. Die zunehmende Finanzialisierung kann so zu sozialer Ungleichheit und ökonomischer Instabilität führen und andere gesellschaftliche Bestrebungen untergraben.
Beispiel 1: Wohnen
Immer mehr Wohnungen in Großstädten gehören Investmentfonds oder börsennotierten Unternehmen. Untersuchungen zeigen, dass durch mehr Finanzinvestor*innen die Immobilienpreise steigen, was auch Auswirkungen auf den Mietpreis haben kann. Das bedeutet: Viele Menschen können sich das Wohnen nicht mehr leisten – eigentlich ein Grundrecht. Im Rahmen der Studie „Rendite mit der Miete – Wie die Finanzmärkte die Wohnungskrise in Deutschland befeuern“ hat Finanzwende Recherche untersucht, welche Auswirkungen finanzialisierte Wohnungsunternehmen für Mieter*innen und den Wohnungsmarkt haben.
Wie konnte es so weit kommen?
Seit den 1980er Jahren haben Deregulierungen und der massive Verkauf von Mehrfamilienhäusern aus gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften deutlich zugenommen. Gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen in die Stadt. Bezahlbare Wohnungen werden dadurch immer knapper.
Große Immobilienkonzerne kaufen immer mehr Wohnungen und bewirtschaften sie so, dass sie maximalen Profit generieren. Das steigert die Miete und hat mit dem tatsächlichen Bedarf der Menschen, die in den Wohnungen leben, oft wenig zu tun. Das zeigt auch unser Video zum Thema Finanzialisierung des Wohnraums eindrücklich.
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Beispiel 2: Gesundheit
Immer häufiger wenden sich Investor*innen auch dem Gesundheitssektor zu. Im Rahmen der Studie „Private-Equity-Investoren in der Pflege“ hat Finanzwende Recherche untersucht, wie Private-Equity-Firmen im Pflegebereich agieren und welche Auswirkungen Finanzialisierung dort hat.
Private-Equity-Firmen bündeln die Gelder von Investor*innen in Fonds – zum Beispiel von Pensionsfonds oder Staatsfonds. Diese erwarten hohe Renditen, oft um die 20 Prozent pro Jahr. Die Private-Equity-Firmen kaufen dann Unternehmen auf und nutzen verschiedene Strategien, um möglichst schnell möglichst viel Geld aus den Unternehmen zu extrahieren. Das Unternehmen wird dabei oft umstrukturiert, bevor es schließlich möglichst gewinnbringend weiterverkauft wird.
Private-Equity-Strategien
Im Pflegesektor bedeutet das: Private-Equity-Firmen nehmen oft hohe Kredite auf, um große Pflegeheimketten zu kaufen. Die daraus resultierenden Schulden werden direkt auf die Heime übertragen. Diese Schulden – und ihre oft hohen Zinsen – muss dann das Pflegeheim tilgen. Als Konsequenz muss es in der Regel schnell höhere Gewinne einspielen und deshalb beim Personal und Service sparen.
Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei Arztpraxen, wie die Finanzwende-Recherche-Studie „Profite vor Patientenwohl – Private-Equity-Beteiligungen an Arztpraxen“ zeigt. Das Geschäftsmodell der Private-Equity-Firmen ändert grundlegend die bisherige Logik im Gesundheitssektor – es geht immer weniger um das Wohl der Patient*innen. Langfristig birgt die Finanzialisierung die Gefahr, dass Pflegeheime und Arztpraxen unter Kostendruck pleitegehen.
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Beispiel 3: Agrarland
Seit der Finanzkrise 2007/2008 steigen vermehrt Investor*innen in die Landwirtschaft ein und kaufen Agrarland als lukrative Vermögensanlage auf. Immer weitere Wertsteigerungen, üppige Subventionen und hohe Pachteinnahmen machen Agrarland für Investor*innen attraktiv. Die Folge sind für viele Landwirt*innen unbezahlbare Kauf- und Pachtpreise.
Finanzwende Recherche hat im Rahmen der Studie „Bodenloser Profit – Wenn Agrarland zur Finanzanlage wird“ die Strategien der Investor*innen anhand von fünf Beispielen untersucht und zeigt die Auswirkungen in der Landwirtschaft auf. Mithilfe sogenannter Share Deals umgehen Investor*innen Regelungen zum Schutz von Landwirt*innen, um Ackerland steuerfrei zu erwerben und dabei sowohl die Genehmigungspflicht, als auch das Vorkaufsrecht für Landwirt*innen zu vermeiden. Anstatt das Agrarland direkt zu erwerben, kaufen die Investor*innen Anteile an Unternehmen, die Agrarland besitzen.
Die Folge: Seit 2007 sind die Kaufpreise für Agrarland im Schnitt um 191 Prozent gestiegen. Das macht sich vor allem in den ostdeutschen Bundesländern überproportional bemerkbar. So sind in Mecklenburg-Vorpommern die Preise um über 440 Prozent gestiegen. Die gestiegenen Preise hindern Landwirt*innen daran, ihre Betriebe zu erweitern und damit ihr Einkommen zu sichern.
Beispiel 4: Wasser
Auch vor Wasser, dem Lebenselixier schlechthin, machen Investor*innen nicht halt. Aufgrund von ökologischen Veränderungen durch den Klimawandel, wie etwa stärkere Dürren, und durch weltweit wachsende Bevölkerungszahlen steigt die Nachfrage nach Wasser. Auch Europa erlebt immer öfter heftige Dürren, was nicht nur Waldbrände und Hitzetote zur Folge hat, sondern auch die Lebensmittelsicherheit nachhaltig gefährdet.
Derweil sinkt das Angebot an Süßwasser – durch die wachsende Knappheit und gleichzeitig steigende Nachfrage wird es zum „blauen Gold“. Dabei geht es nicht nur um irgendeine begehrte Ressource. Seit 2010 ist der Zugang zu Wasser ein von den Vereinten Nationen festgelegtes Menschenrecht.
Trotzdem investieren auch hier Finanzinvestor*innen, wenn die Gesetzeslage es zulässt. Werden die Zugänge und Infrastruktur privatisiert, treibt die Profitmaximierung der Investor*innen die Preise für Verbraucher*innen in die Höhe.
Was das bedeuten kann, illustriert das Beispiel Großbritannien eindrücklich: Die Wasserversorgung wurde hier 1989 privatisiert. Ehemals regionale staatliche Wasserversorgungsunternehmen wurden an die Börse gebracht oder von Finanzinvestor*innen übernommen – darunter auch Private-Equity-Firmen. Daraufhin wurde das Wasser für Verbraucher*innen 40 Prozent teurer. Schätzungen zufolge decken 20 Prozent jeder Wasser- und Abwasserrechnung heute ausschließlich die Zins- und Dividendenzahlungen der Finanzinvestor*innen. Da die Konzerne oft hohe Schulden aufgenommen haben, sind sie trotzdem auf Staatshilfen angewiesen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Wie die Finanzialisierung der Gesellschaft gestoppt werden kann
Die vier Beispiele Wohnen, Gesundheit, Wasser und Agrarland zeigen: Bei der fortschreitenden Finanzialisierung geht der Profit von wenigen auf Kosten von vielen. Die Profitorientierung der Finanzakteur*innen hat in vielen Bereichen negative gesellschaftliche Auswirkungen. Doch mit konsequenter und zielgerichteter Regulierung in den einzelnen Feldern kann dem Thema begegnet werden.
Finanzwende Recherche arbeitet deshalb daran, Finanzialisierung in unterschiedlichen Lebensbereichen zu untersuchen und sichtbar zu machen. Denn um gute Lösungsvorschläge zu erarbeiten, müssen Probleme zunächst erkannt und erklärt werden. Ein Lösungsansatz zur Bekämpfung der Finanzialisierung wäre das Konzept eines Ausschüttungsdeckels. Mit einem solchen Deckel würde das Vorgehen der Finanzinvestoren eingeschränkt.
Doch auch andere Lebensbereiche sind zunehmend von der Finanzialisierung betroffen: Lesen Sie hier, wie Investor*innen Profite mit Fußball erwirtschaften und wie Mikrokredite von einer guten Idee zum Finanzprodukt zugunsten der Investor*innen wurden.
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