Finance ist nicht komplexer als der Rest der Welt

Alison Schultz

01.12.2022

Wie kommt es, dass viele Menschen vor Finanzthemen zurückschrecken? Wieso gelten sie als komplizierter als zum Bespiel die Klimakrise? Fakt ist: Es fehlt ein demokratischer Umgang mit dem Thema. Wir dürfen und sollten uns eine Meinung dazu erlauben.

  • Finanzthemen gelten als besonders komplex. Dabei sind sie auch nicht komplizierter als andere Bereiche des modernen Lebens.
  • So werden sie systematisch aus dem demokratischen Prozess ausgeschlossen und „Expert*innen“ überlassen.
  • Die Erzählweise vom komplexen Finanzmarkt nutzt der Finanzlobby, unliebsame Forderungen als naive Ideen zu delegitimieren.

Der Finanzmarkt ist so komplex wie fast alle Dinge des modernen Lebens

Der Finanzmarkt ist unendlich komplex. Allein der Begriff Geld: hier Kapital, da Kredit, dort wiederum Liquidität, aber das ist natürlich nicht dasselbe wie Bargeld oder etwa doch? Und wenn man sich gerade in Aktien und Anleihen eingelesen und ETFs gegoogelt hat, kommen Zinsswaps, Asset-Backed-Securites und SPAC-Aktien um die Ecke. Und selbstverständlich hat alles einen englischen Namen und eine wilde Abkürzung.

Richtig kompliziert wird es dann bei den Zusammenhängen: Wieso genau leidet meine Bank jetzt nochmal unter den Hauspreisschwankungen in den USA? Warum sind zahlreiche Deutsche pleite, wenn irgendwelche Schiffe nicht verkauft werden? Sobald man glaubt, man habe etwas verstanden, liest man weiter und merkt, dass man vielleicht doch nicht alles verstanden hat.

Aber ist der Finanzmarkt wirklich komplexer als andere Dinge des modernen Lebens?

Nehmen wir die Klimakrise. Hier taucht CO₂ als Abgas auf, dort als Teil der Atemluft und ist das nicht auch dasselbe Zeug, das in die Sprudelmaschine kommt? Und wenn man gerade gelernt hat, dass Wetter nicht dasselbe ist wie Klima und die chemische Zusammensetzung von CO₂ gegoogelt hat, da liest man, dass Methan noch viel schlimmer ist als CO₂. Aber was ist Methan eigentlich, und warum ist es schlimmer und was bedeutet „schlimmer“ in diesem Kontext überhaupt?

Richtig verwirrend wird es dann wieder bei den Zusammenhängen: Wieso genau macht es die Welt wärmer, wenn da mehr CO₂ ist? Und wie war das eigentlich nochmal mit diesen Kipppunkten? Und auch hier gilt: Sobald man denkt, man habe etwas verstanden, liest man weiter und merkt, dass man doch nicht alles verstanden hat.

Der Finanzmarkt wird systematisch als besonders komplex dargestellt

Warum ich das schreibe? Ich habe noch nie jemanden sagen hören: „Och nö, Klima, das ist mir zu kompliziert“. Zahlreiche Menschen sagen aber genau das über den Finanzmarkt. Ich habe selten in Medien den Satz gehört: „Vorsicht, jetzt wird es etwas kompliziert, es geht ums Klima“. Genau diesen Satz habe ich aber zahlreiche Male über den Finanzmarkt gehört. Finanzthemen werden im besonderen Maße als komplex und undurchschaubar dargestellt, sei es von Medien[1], Politiker*innen[2] oder der Zivilgesellschaft.

Vielleicht finden viele Menschen andere Themen einfach interessanter und nehmen deshalb ihre Komplexität weniger wahr. Und vielleicht, so argumentieren manche Expert*innen, fehlt einigen Menschen bei Finanzthemen einfach die Grundbildung, um nicht jede Info gleich als übermäßig komplex wahrzunehmen.

Die Erzählung der besonderen Komplexität verhindert demokratische Repräsentation

Egal aus welchen Gründen Finanzthemen als besonders komplex gelten: Es ist ein Problem. Der politische Prozess bei Finanzthemen ist dadurch systematisch weniger demokratisch als bei anderen Themen. Die scheinbar besondere Komplexität verleitet dazu, Meinungen und Forderungen von Nicht-Expert*innen zu diskreditieren. Das hält viele davon ab, sich überhaupt erst einzubringen. So sind Finanzthemen selten Teil der Wahlentscheidung[3] und bringen bisher kaum Menschen auf die Straße[4].

Dabei ist es völlig normal, dass wir als Wähler*innen und Bürger*innen Meinungen und Interessen zu Themen kundtun, die wir nicht vollständig verstehen. Bei anderen Themen sehen wir darin auch kein Problem: Habe ich Kipppunkte wirklich verstanden? Nein. Interessiert es mich, wie sie genau entstehen? Um ehrlich zu sein: nein. Werde ich trotzdem dafür auf die Straße gehen, dass wir als Gesellschaft gegen die Klimakrise kämpfen? Natürlich. Und ich werde mir bestimmt nicht von der Kohlelobby einreden lassen, dass das nicht so einfach sei und ich doch erstmal über ein fehlendes Physikverständnis nachdenken sollte. So entstand beim Thema Klima ein echtes Gegengewicht zur Lobby der Öl- und Kohle-Konzerne.

Ein vergleichbar starkes zivilgesellschaftliches Gegengewicht fehlt bei Finanzthemen bisher (und selbst im Umweltbereich setzt sich auch heute noch häufig die Lobby der Fossilen durch). Muss man CumEx vollständig durchschauen, um zu verstehen, dass es ein Verbrechen ist, sich Steuergeld erstatten zu lassen, das nie gezahlt wurde? Nein. Muss man sich für Dividendenstichtage und Shortselling und die Ausnahmeregelungen für die Kapitalertragssteuer interessieren? Nein. Sollten Finanzthemen wie CumEx bei Wahlentscheidungen trotzdem eine Rolle spielen und – bestenfalls – die Massen auf die Straßen bringen? Absolut. Dafür müssen wir aufhören, uns von der Finanzlobby einreden zu lassen, dass wir erst einmal genau verstehen müssen, wie eine Aktie funktioniert. Müssen wir nämlich nicht.

Warum ist ausgerechnet der Finanzbereich so exklusiv?

Jeder Profession kann man ein Interesse daran unterstellen, die Definitionshoheit über ihr Fach zu haben. Wer sich jahrelang mit etwas beschäftigt hat, mag es natürlich nicht, wenn jemand mit weniger Erfahrung denkt, er oder sie könne auch etwas zum eigenen Thema beitragen. Aber warum sind gerade Finanz-Expert*innen so schnell darin, Forderungen von Nicht-Expert*innen mit den Worten „so einfach ist das nicht“ oder dem Hinweis, man solle erst einmal A, B, oder C lernen, abzutun?

Ein Grund für die Exklusivität: Expertentum im Finanzbereich überlappt stark mit finanziellen Interessen. Schließlich geht es im Finance-Studium, anders als bei anderen Studienfächern, von vornerein ums Geld. Finance-Absolvent*innen landen überdurchschnittlich oft in überdurchschnittlich guten Positionen. Naturgemäß steht dieser den Forderungen „der Straße“ oft kritisch gegenüber insbesondere denen, die ihn finanziell belasten würden. Da ist es angenehm, wenn nur die eigene Industrie als klug genug gilt, den allzu komplexen Finanzmarkt zu verstehen.

Auch in der Öffentlichkeit werden Beschäftigte in der Finanzindustrie häufig als besonders kompetent dargestellt. Wenn ein Kohleunternehmer eine Gesetzeslücke findet, um Abwässer zu verschmutzen: ein Verbrecher! Wenn ein Investmentanwalt eine Lücke im Gesetz ausnutzt, um Steuern zu hinterziehen: schon ein Verbrecher, aber irgendwie auch ein gewiefter, smarter Typ. Sieht man da nicht mal wieder, dass die Beschäftigten im Finanzbereich so viel klüger sind als die Politik?

Dabei ist es sehr viel leichter, eine Lücke im Gesetz zu finden, als ein lückenloses Gesetz zu konstruieren. Und wer eine Lücke im Gesetz findet und sie auf Kosten der Allgemeinheit ausnützt, ist nicht klug, sondern ein*e Verbrecher*in.

Von Politiker*innen sollten wir deshalb einfordern, dass sie auch bei Finanzthemen die Interessen der Allgemeinheit vertreten. „Kümmert euch verantwortlich um unser Geld“ wäre eine erste Forderung. Und für die braucht man keinerlei Expertise.

Literaturverzeichnis

[1] Die beispielweise Finanzartikel mit der Überschrift „Finanzdschungel“ versehen.

[2] Die nur allzu gern mit kompliziert klingenden Fachbegriffen um sich werfen.

[3] Siehe beispielsweise die Wahlmotive bei der Bundestagswahl 2021, bei denen Steuer- und Finanzthemen nur bei Wähler*innen der FDP unter den wichtigsten drei Themen auftauchen.

[4] In dieser von der Süddeutschen Zeitung zusammengestellten Übersicht über bedeutende Proteste in Deutschland seit 1945 sind die Occupy-Proteste die einzigen, die direkt Finanzthemen direkt aufgreifen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Gastbeitrag im Finanzwende-Blog. Die jeweiligen Autor*innen geben nicht zwangsläufig Finanzwende Positionen wieder.

Alison Schultz

Alison Schultz

Alison Schultz promoviert in Finance an der Universität Mannheim und arbeitet für das Tax Justice Network. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen des Finanzsektors auf die Realwirtschaft.

 

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