Kniefall vor der Lobby
Das Baseler Regelwerk und das zu geringe Eigenkapital der Banken
Nach der Finanzkrise 2008 haben die Steuerzahler*innen in Deutschland mehr als 70 Milliarden Euro für Bankenrettungen gezahlt. Das sind 3.000 Euro für jede Familie. Schuld daran war auch der Lobbyismus der Finanzbranche: Vor der Krise hatte sie Regeln verhindert, die sie zu ausreichend Eigenkapital gezwungen hätten, um Verluste selbst auffangen zu können. Die Folge war eine extreme Verschuldung der Banken, eine der Hauptursachen der Finanzkrise. Und auch nach der Krise gelang es der Finanzlobby, schärfere Regeln zur Eigenkapital-Ausstattung zu verwässern und zu verzögern.
Jedes vernünftig wirtschaftende Unternehmen finanziert seine Geschäfte mit mindestens 25 bis 30 Prozent Eigenkapital. Wenn es finanzielle Verluste gibt, bei Zahlungsausfällen von Kund*innen beispielsweise, schützt dieses Kapital das Unternehmen vor der Insolvenz. Doch an genau diesem Schutz fehlte es den Banken, als sie sich im großen Stil am amerikanischen Immobilienmarkt verzockten. So hatte die Münchener Hypo Real Estate Bank kurz vor ihrem Kollaps 2008 gerade einmal 0,08 Prozent Eigenkapital in ihrer Bilanz. 99,92 Prozent des Geldes, mit dem die Bank gewirtschaftet hatte, waren Schulden.
Möglich wurde diese extreme Verschuldung durch laxe globale Standards für die Bankenregulierung. Sie werden vom Baseler Ausschuss entwickelt, einem Gremium aus Notenbanker*innen und Vertreter*innen von Aufsichtsbehörden aus 28 Ländern. Sein Basel II genanntes Regelwerk von 2004 war maßgeblich vom Institute for International Finance (IIF) beeinflusst worden, einer Art Epizentrum der globalen Finanzlobby mit über 400 Banken, Vermögensverwaltern, Hedgefonds und Versicherungsunternehmen als Mitgliedern. Das IIF hatte dafür gesorgt, dass interne Risikomodelle Teil von Basel II wurden. Damit konnten die großen Banken ihre tatsächlichen Risiken künstlich kleinrechnen und Eigenkapital einsparen. In der Krise fielen die hochverschuldeten Banken dann um wie Dominosteine und mussten gerettet werden. Und die Chefs großer Banken, Jamie Dimon von JPMorgan Chase etwa, gaben zähneknirschend zu, dass die exzessive Verschuldung der Banken „eine der Kernursachen der Krise“ war.
„Der Steuerzahler soll nie mehr bei einer Bankenkrise belastet werden. Aber das geht nur, wenn die Eigenkapitalausstattung genügend groß ist.“
Nach der Krise sollte sich das mit den Schulden ein für alle Mal ändern. Banken sollten nicht mehr gefährlich auf Pump leben können, sondern in der Lage sein, größere Verluste selbst zu tragen. Eine erneute Bankenkrise sollte so verhindert werden. 2010 schlug der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium vor, die Eigenkapitalanforderungen von Banken auf bis zu 15 Prozent ihrer Bilanzsumme anzuheben. Andere forderten sogar 20 bis 30 Prozent, um die Geldhäuser robuster und das Finanzsystem stabiler zu machen.
Aber die Geschichte wiederholte sich. Die Bankenlobby sorgte dafür, dass es wieder nicht dazu kam.
Lobbying in der Agenda-Setting-Phase
Noch inmitten der Krise nahm die Finanzlobby erneut den Baseler Ausschuss ins Visier. Im September 2009 kündigte der Ausschuss die Überarbeitung seiner bisherigen Standards an, darunter strengere Eigenkapitalregelungen.
Da war die Lobby längst in der Offensive. Bereits im Juli hatte das IIF medienwirksam ein Papier veröffentlicht. Darin begrüßte die Lobbygruppe zwar neue Regeln für den Bankensektor, warnte aber davor, übers Ziel hinaus zu schießen. Ganze Volkswirtschaften könnten sonst gefährdet werden. Das IIF hatte mehrere Top-Lobbyist*innen, die vorher Mitglieder im Baseler Ausschuss gewesen waren, und einen Ehemaligen, der durch die Drehtür gegangen war und inzwischen im Ausschuss saß. Also: einen engen Draht zu den Regulierer*innen.
„Trotz des immensen politischen Willens für Reformen gewannen die großen internationalen Banken […] die Kontrolle über den Baseler Prozess. Sie verzerrten die neuen Regeln zu ihren Gunsten und schlossen so das entscheidende Zeitfenster für weitreichende Reformen.“
Ranjit Lall, Professor für Internationale Politische Ökonomie, Universität Oxford
Dank dieses guten Drahts und des frühen Agierens erlangte die Finanzlobby erneut die Kontrolle über den Basel-Prozess. Das IIF forderte schon in seinem Papier vom Juli 2009, Kapitalstandards nur innerhalb des so genannten risikobasierten Ansatzes zu ändern – also weiter die internen Rechenmodelle zu verwenden, welche die extreme Verschuldung der Banken mit ermöglicht hatten. Als beim Baseler Ausschuss Warnungen davor eingingen, war es zu spät. Der risikobasierte Ansatz war bereits fester Bestandteil des zukünftigen Reformpakets, genannt Basel III.
Schreckgespenst Kreditklemme
Der Baseler Ausschuss wurde im Laufe der Verhandlungen überschwemmt mit Lobbypapieren. Von 274 Kommentaren, die dort eingingen, stammten 230 aus der Feder von Wirtschaftslobbygruppen, darunter die Deutsche Bank, die Deutsche Börse und der Zentrale Kreditausschuss (heute bekannt als „Die Deutsche Kreditwirtschaft“, ein Zusammenschluss des Verbands der Volksbanken und Raiffeisenbanken, des Bundesverbands deutscher Banken, des Verbands Öffentlicher Banken, des Sparkassen- und Giroverbands und des Verbands deutscher Pfandbriefbanken). Allein die Kommentare des IIF umfassten 151 Seiten.
Beim Kampf gegen höhere Eigenkapital-Auflagen setzte die Finanzindustrie auf Panikmache. Die Auflagen könnten den Wirtschaftsaufschwung abwürgen und zehn Millionen Arbeitsplätze kosten, warnte das IIF, nachdem die Vorschläge für das Basel III Reform-Paket öffentlich gemacht worden waren. Die Banken würden die höheren Kapitalkosten an die Kunden weitergeben und der Wirtschaft weniger Kredite geben, behauptete Joseph Ackermann, damals Vorsitzender des IIF und Chef der Deutschen Bank. Es sei daher wichtig, die neuen Regeln schrittweise über einen längeren Zeitraum einzuführen, so Ackermann.
„Hier wird ein typisches Schreckgespenst heraufbeschworen, mit dem uns weisgemacht werden soll, wir müssten zwischen Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität wählen, könnten aber nicht beides haben.“
Martin Hellwig und Anat Admati in ihrem Buch „Des Bankers neue Kleider”
Die Behauptung, dass Banken mit weniger Eigenkapital mehr Kredite an die Wirtschaft vergeben können, war da schon längst empirisch widerlegt. Die Panikmache verfing trotzdem. Als Basel III 2010 beschlossen wurde, konnten die Banken zufrieden sein. Die Eigenkapital-Anforderungen wurden zwar erhöht, blieben aber weit hinter den Empfehlungen zurück. Banken mussten nun eine risikogewichtete Eigenkapitalquote (Equity Ratio) von sieben Prozent erreichen – aber die bezieht sich eben nur auf einen winzigen Teil ihrer Aktiva und sah dazu noch übermäßig lange Übergangsfristen bis 2019 vor. Erstmals führte Basel III auch eine so genannte Leverage Ratio ein, also eine Eigenkapitalvorschrift, die sich auf die gesamte Bankbilanz bezieht. Sie betrug aber nur mindestens drei Prozent Eigenkapital im Verhältnis zu den gesamten Aktiva – ein „empörend niedriger“ Wert, so die Ökonomin Anat Admati und der Ökonom Martin Hellwig.
Banken mit mehr Eigenkapital vergeben mehr Kredite
Quelle: Bundesbank Zeitreihen-Datenbank 10-2021
Entsprechend sarkastisch war die Kritik der Financial Times. Sie nannte Basel III eine „Maus, die nicht brüllte” – wenngleich „die Bankenbranche darauf bestehen wird, dass die Maus ein Tiger ist, der kurz davor steht, die Weltwirtschaft zu verschlingen.“ Nach Bekanntgabe des Reform-Pakets schnellten die Kurse der größten Privatbanken in die Höhe.
Nur wenig später veröffentlichte übrigens die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zwei Berichte, die die Horrorszenarien des IIF widerlegten. Aber da war es bereits zu spät.
Kampf gegen Output-Floor
Der erste Teil der Basel III-Reformen hatte ein fatales Schlupfloch intakt gelassen: interne Rechenmodelle der Banken, mit denen sie ihre Risiken – und damit das Eigenkapital – beliebig kleinrechnen und Stabilität vorgaukeln konnten. Das zweite Paket sollte die Tricksereien beenden. Eine Eigenkapital-Untergrenze, der so genannte Output-Floor, sollte die Manipulation durch bankinterne Risikomodelle drastisch reduzieren. Das betraf vor allem Großbanken wie die Deutsche Bank, die Commerzbank und die DZ Bank, die mit diesen Modellen rechnen. Es ging beim Output-Floor daher auch darum, faire Wettbewerbsbedingungen für die kleineren und mittelgroßen Geldinstitute herzustellen, die meist mit den Standardmodellen rechnen.
Die Bankenlobby lief Sturm gegen den Output-Floor. Neben technischen Argumenten setzte sie auf bekannte Schreckgespenster. „Die potenziellen Auswirkungen auf die Kreditvergabe an die Realwirtschaft und die Finanzierung von Wachstum müssen sorgfältig geprüft werden”, forderte die Deutsche Bank in einem Schreiben an den Baseler Ausschuss im Jahr 2015. Gemeinsam mit dem Bundesverband der Industrie (BDI) warnte der Bankenverband: „Die Banken dürfen nicht aus der Unternehmensfinanzierung verdrängt werden.“ Wie viele andere Lobbygruppen nannten die beiden Verbände die neuen Regeln jetzt übrigens konsequent Basel IV (nicht mehr Basel III) – um zu suggerieren, dass die Politik den Hals nicht voll bekäme und sich anmachte, die „Regulierungsschraube mit neuen Ansätzen zu überdrehen.“
„Anzuerkennen ist, dass sich insbesondere auch die deutsche Verhandlungsdelegation lange gegen einen Kompromiss zu Lasten der […] Banken gestemmt hat.“
Erneut hatte die Lobby Erfolg: Mehrmals wurde die Fertigstellung von Basel III verschoben, nachdem sich unter anderem die Vertreter*innen Deutschlands der Bankenlobby angeschlossen hatten. Im Dezember 2017 wurden die Reformen dann endlich verabschiedet – neun Jahre nach dem Kollaps der Bank Lehman Brothers. Die Reformen enthalten einen Output-Floor von 72,5 Prozent. Das bedeutet: Banken, die Eigenkapitalanforderungen mit ihren internen Modellen berechnen, müssen mindestens 72,5 Prozent des Limits einhalten, das Standardmodelle ergeben würden. Da anfangs deutlich höhere Werte im Gespräch gewesen waren, werteten Expert*innen das als „einen beträchtlichen Verhandlungserfolg der Bankenverbände“. Und: Sie bekamen erneut sehr lange Zeit – bis 1.1.2027 – um die Vorschriften vollständig umzusetzen. In der Corona-Pandemie wurde diese Deadline nochmal um ein Jahr verschoben. Auf ganze 20 Jahre nach dem großen Crash.
Die Basel-III-Verwässerung der EU
Doch die Geschichte des Verwässerns und Verzögerns ist damit noch nicht zu Ende. Die Baseler Vereinbarungen werden erst rechtsverbindlich, wenn sie in nationale beziehungsweise EU-Gesetzgebung übernommen werden. Schon beim ersten Basel III-Paket wurden die Mindeststandards bei der Überführung in EU-Recht unterwandert. Nun sieht es so aus, dass auch die Basel-III-Finalisierung auf EU-Ebene im Interesse der Finanzlobby abgeschwächt und auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben wird.
Schon der Gesetzesentwurf der Europäischen Kommission vom Oktober 2021 enthält die Fußabdrücke der Bankenlobby. Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) begrüßte ausdrücklich das „bewusste Abweichen“ vom angestrebten Zeitplan des Baseler Ausschusses für das Inkrafttreten der neuen Regeln. Statt 2023 soll die Umsetzung nach Willen der Kommission erst 2025 beginnen – und statt am 1.1.2028 erst 2030 abgeschlossen sein. Außerdem nimmt der Vorschlag der Kommission bestimmte Eigenkapitalanforderungen vom Output-Floor aus.
Wie sehr der Kommissionsvorschlag Basel III verwässert, zeigen Berechnungen der Bundesbank vom September 2022: Während eine volle Umsetzung der Baseler Vereinbarungen die Eigenkapitalanforderungen an den deutschen Bankensektor um fast 20 Prozent hätte steigen lassen, schrumpft dieser Anstieg durch den Vorschlag der EU-Kommission auf mickrige 5,4 Prozent. Anscheinend spielte die deutsche Bundesregierung in Person des damaligen FinanzStaatssekretärs und ehemaligen Goldman Sachs-Lobbyisten Jörg Kukies erneut eine wichtige Rolle bei der Verwässerung der Baseler Vorschriften.
„Das Kernargument der Lobby war: Das schwächt die europäischen Banken. Das bekamen wir immer und immer wieder zu hören.“
EU-Diplomat
Diesmal konnte die Lobby mit der Behauptung punkten, europäische Banken würden gegenüber ihren US-amerikanischen Konkurrenten benachteiligt. Die Deutsche Kreditwirtschaft warnte: „Der europäische Markt würde zu wesentlich größeren Teilen als heute von US-amerikanischen Banken dominiert, während Banken in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern damit beschäftigt wären, ihre Eigenkapitalsituation zu verbessern.“ Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass der Output-Floor für US-Banken nur deshalb keiner Verschärfung gleichkäme, weil die Eigenkapitalanforderungen in den USA längst strikter waren als in Europa. Die USA hatten nach der Krise gründlicher aufgeräumt.
Eine Meisterleistung der Bankenlobby
Der Vorschlag der EU-Kommission vom Oktober 2021 sei eine „Meisterleistung“ der deutschen und europäischen Finanzlobby, urteilt ein Finanzlobbyist. Schon lange vor der Verabschiedung des Baseler Regelwerks Ende 2017 hätte sie darauf hingearbeitet, dass die spätere Umsetzung der Eigenkapitalauflagen auf europäischer Ebene „nicht so einschlagen wird, wie es einmal geplant war”.
Mit einem Vorschlag vom November 2022 wollen die EU-Mitgliedstaaten den Vorschlag der Kommission nun durch zusätzliche Ausnahmen noch weiter verwässern. Es sähe so aus, als könnten „unsere Banken (bzw. deren Lobbyisten) auf der Zielgeraden der Basel-III-Reform noch etliche Erleichterungen herausschlagen“, urteilte das Portal Finanz-Szene.
Europäische Banken werden sich also auch in Zukunft weiter massiv verschulden können. So urteilte die Organisation Finance Watch schon 2021: „Der Entwurf des Bankenpakets 2021 wird dem Basel-IIIReformzyklus nach der Krise nicht gerecht. Er führt dazu, dass die europäischen Banken weiterhin unzureichend kapitalisiert und die Steuerzahler gefährdet sind.” 14 Jahre nach einer der schwersten Finanzkrisen der Geschichte ist die Stabilität unseres Finanzsystems also weiter gefährdet.
Hinweis: Dieser Text ist ein Auszug aus der Studie "Im Auftrag des Geldes" von Finanzwende Recherche. Die vollständige Studie inkl. aller Links und weiterer Quellenangaben finden Sie hier:
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