Real- und Finanzwirtschaft

Die Finanzialisierung der Mikrokredite

Von einer guten Idee zum internationalen Finanzprodukt?

28.03.2023

  • Mikrokredite sollten Menschen finanzielle Mittel für den Weg aus der Armut zur Verfügung stellen.
  • Inzwischen haben kommerzielle Interessen den Mikrokreditsektor erreicht. Am rasant wachsenden Markt lässt sich ein zunehmendes Eindringen der Finanzmarktlogik beobachten.
  • Während die Rendite der Anleger*innen immer mehr in den Fokus rückt, führt die massive Verbreitung profitorientierter Mikrokredite immer wieder zu einer Überschuldung der Kreditnehmenden.

Was sind Mikrokredite?

Mikrokredite sind kleine Kredite und werden als ein Mittel zur Armutsbekämpfung, vornehmlich im Globalen Süden, verstanden. Weltbekannt wurden Mikrokredite durch die Arbeit des Wirtschaftswissenschaftlers Muhammad Yunus, der 2006 dafür sogar den Friedensnobelpreis erhielt.

Yunus beobachtete, dass viele ärmere Menschen in seinem Heimatland Bangladesch überdurchschnittlich hohe Zinsen an „Kredithaie“ zahlen mussten, da sie nicht die notwendigen Kreditsicherheiten besaßen, um sich bei konventionellen Banken Geld zu leihen. Daraufhin gründete er die Dorf-Bank Grameen Bank, die Gruppenkredite verlieh, primär an Frauen. Kreditnehmer*innen waren keine Einzelpersonen. Stattdessen erhielt und verteilte die Gruppe als Ganzes den Kredit und gewährleistete auch die Rückzahlung.

Mikrokredite sollten die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, um Kleinstunternehmen zu gründen oder bereits existierende Unternehmen zu stabilisieren und so den Menschen einen Weg aus der Armut ermöglichen. Dieser Ansatz der Hilfe wurde weltweit populär. In den letzten Jahrzehnten ist das Mikrokreditvolumen sowie die Anzahl der Kreditnehmenden rapide gestiegen.

Video: Das Geschäft mit der Armut – Wie Investoren an Mikrokrediten verdienen

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Aufstieg der Mikrokredite

Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ist mit einem Portfolio von 2,2 Milliarden Euro laut eigenen Angaben eine der weltweit größten Geber*innen im Bereich der Mikrofinanzierung. Doch nicht nur staatliche Entwicklungshilfe füttert die Kredite mit Geld. Bereits 2005, im von der UN ausgerufenen „Jahr des Mikrokredits“, wurde deutlich: Kommerzielles Interesse hat auch den Mikrokreditsektor erreicht, wie das Sponsoring der Veranstaltungen durch Finanzinstitute wie Citigroup, ING oder VISA zeigte. Danach kam es zu einem regelrechten Mikrokredit-Boom. In den Jahren 2005 bis 2016 wurden durchschnittlich zwölf neue Fonds pro Jahr gegründet, im Vergleich zu nur knapp vier neuen Fonds pro Jahr in den frühen 2000er-Jahren.

Bruttokreditvolumen Mikrokredite weltweit in Milliaren US-Dollar

Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf dem MIX Market Dataset der World Bank

Mit dem rasanten Wachstum ging eine Professionalisierung des Mikrokreditsektors einher – und eine zunehmende Finanzialisierung. Die rein profitorientierte Logik der Finanzmärkte griff also auf die Idee der Mikrokredite über. So sind mittlerweile ca. 75 Prozent der Mikrokredite profitorientiert. Die Kreditnehmenden geraten zunehmend unter Druck, die Kredite zurückzuzahlen. Bleibt der wirtschaftliche Erfolg aus, droht durch relativ kurze Kreditlaufzeiten mit hohen effektiven Zinssätzen ein Teufelskreis aus Refinanzierungen: Menschen nehmen einen neuen Kredit auf, um einen alten abzulösen. Besonders problematisch ist bei der Kreditvergabe, dass viele Mikrofinanzinstitute nicht ausreichend prüfen, wofür Kredite verwendet werden, ob die Kund*innen wirtschaftlich profitieren können und ob sie über genügend Einkommen verfügen, um den Kredit zurückzuzahlen.

Die Zinsen, die die Kreditnehmer*innen im Globalen Süden bezahlen müssen, liegen im Schnitt bei 20 Prozent. Einer der größten Vermögensverwalter von Mikrokrediten, Invest in Visions, argumentiert, Zinssätze von 18 bis 30 Prozent seien gerechtfertigt – durch eine höhere Inflation und ein allgemein „kleinteiliges und dadurch kostenintensives Geschäft“ in den betroffenen Ländern. Nichtsdestotrotz waren zumindest in der Vergangenheit die effektiven Zinssätze oft unfassbar hoch – mitunter berichteten Medien von Zinsen für Kund*innen von 80 Prozent und mehr.

Was ist Finanzialisierung?

Die problematischen Entwicklungen im Bereich Mikrokredite sind Teil einer Entwicklung, die wir als „Finanzialisierung“ bezeichnen. Nicht mehr die ursprünglichen Ziele (hier Armutsbekämpfung) stehen im Vordergrund, sondern die Profitlogik des internationalen Finanzsektors. So wächst der Mikrokreditsektor genau wie auch der Finanzsektor insgesamt – zum Schaden der realwirtschaftlichen Akteur*innen wie Unternehmen oder Verbraucher*innen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Größe des Finanzsektors – gemessen am Gesamtbestand der finanziellen Vermögenswerte – im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung in der Eurozone verdoppelt – mit entsprechenden Folgen. Weitere Beispiele, in denen sich die Finanzmarktlogik in Alltagsbereichen breitmacht, finden Sie in unserer Videoreihe zum Thema.

Wie funktioniert das Geschäft mit den Mikrokreditfonds genau?

Mikrofinanzinstitute vergeben lokal kleine Kredite an Kund*innen. Die Gelder, die die Mikrofinanzinstitute zur Kreditvergabe nutzen, kommen in der Regel entweder aus der Entwicklungshilfe oder von ausländischen Banken und Vermögensverwaltungsgesellschaften.

Profitorientierte Akteur*innen bündeln die einzelnen Kredite in einem zweiten Schritt zu einem Mikrokreditfonds. Diese Mikrokreditfonds werden dann wiederum als Anlagemöglichkeit für Anlegende in Europa oder den USA bereitgestellt. Dies können sowohl Privatpersonen als auch institutionelle Investor*innen wie Pensionsfonds sein. In Deutschland wurden Mikrokreditfonds durch das 2007 geänderte Investmentgesetz auch für Kleinanleger*innen zugänglich.

Die Fonds werden meist als soziale Investitionen mit Rendite beworben. Mikrokredite wurden so zu einer verstärkt nachgefragten Anlagemöglichkeit.[1] Die zunächst dezentrale Organisation von Mikrokrediten wurde also abgelöst durch eine Einbindung in die internationalen Finanzmärkte. Während es ursprünglich darum ging, die Nachfrage der Kreditnehmenden zu bedienen, wird nun primär der Bedarf der Anlegenden gestillt.[2] Ein Blick auf die Finanzierungsquellen der Mikrokreditfonds zeigt: Der Anteil öffentlicher Gelder ist stetig gesunken, während institutionelle Investor*innen wie beispielsweise Pensionsfonds ihren Anteil erhöhten. Gerade institutionelle Anleger*innen erwarten dabei eine stets hohe, stabile Rendite.

Globale Finanzierungsquellen der Mikrokredite

Quelle: Symbiotics MIV Survey (2012 & 2019)

Auswirkungen der Mikrokreditfonds

Immer mehr Mikrokredite werden dabei gar nicht für wirtschaftliche Tätigkeiten, sondern für den Alltagskonsum genutzt.[3] Eine umfassende empirische Studie zeigt: Mikrokredite haben keinen armutsverringernden Effekt.[4] Stattdessen führt die massive Verbreitung profitorientierter Mikrokredite in vielen Fällen zu einer steigenden Überschuldung der Kreditnehmenden.

Kambodscha ist ein besonders verheerendes Beispiel: Hier werden weltweit die im Durchschnitt höchsten Mikrokredite vergeben. Ende 2020 waren es 4.280 US-Dollar pro Kredit. Dabei hatte die Hälfte der Bevölkerung für das Jahr insgesamt unter 1.150 US-Dollar zur Verfügung. Um die Kredite zu tilgen, bleibt vielen Familien nichts anderes, als an essentiellen Ausgaben zu sparen, ob im Bereich Bildung, Ernährung oder gar durch Landverkauf. Teilweise hilft nur ein neuer Kredit. Eine aktuelle Studie zeigt: 12,5 Prozent der Kreditnehmer*innen in Kambodscha haben einen Mikrokredit aufgenommen, um einen anderen Kredit zu bedienen.

Das Mikrofinanzgeschäft ist laut Bloomberg Recherchen weiterhin sehr profitabel. So erwirtschaften verschiedene Mikrofinanzinstitute in Kambodscha, den Philippinen, Teilen Afrikas und Südamerikas eine Eigenkapitalrendite von mehr als 25 Prozent. Selbst als die Pandemie 2020 die Wirtschaft Kambodschas schwächte, haben sechs von acht lokalen Mikrofinanzinstituten Rekordgewinne eingefahren.

Mittlerweile kritisieren renommierte Ökonom*innen wie Ha-Joon Chang Mikrokredite. Sogar Muhammad Yunus, der Gründungsvater, distanzierte sich von der jüngsten Entwicklung der Mikrokredite:

„Ich hätte nie gedacht, dass Mikrokredite eines Tages eine eigene Art von Kredithaien hervorbringen würden.”

Quelle: Muhammad Yunus, New York Times

Sind die Mikrokredite noch zu retten?

Die ursprüngliche Idee der Mikrokredite ist gut. Sie ermöglicht auch ärmeren Bevölkerungsschichten den Zugang zu wichtigen Finanzdienstleistungen. Deswegen sollte die hier beschriebene Fehlentwicklung nicht zu dem Schluss führen, Mikrokredite seien per se problematisch. Allerdings gilt es, die Renditelogik zurückzudrängen und die Bedürfnisse der Kreditnehmenden wieder in den Vordergrund zu stellen. Dabei könnten folgende Ansätze helfen:

 

  • Grundsätzlich sollten Mikrofinanzinstitute sicherstellen, dass Kreditnehmer*innen sich nicht überschulden, indem sie sich stärker am Einkommen ihrer Kund*innen orientieren und Kreditobergrenzen und eine maximale Anzahl an Krediten festlegen. Beschwerden der Kreditnehmer*innen sollten rechtlich durchsetzbar sein. Dafür sollten unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden.
  • Anbieter*innen von Mikrokreditfonds sollten die Praxis der Mikrofinanzinstitute, mit denen sie kooperieren, sorgfältig prüfen und die Rendite ihrer Intermediär*innen offenlegen, damit Anleger*innen bewusste Entscheidungen treffen können. Eine über mehrere Jahre hohe Rendite (Return on Assets) kann als Hinweis für unangemessen hohe Gewinne von Mikrofinanzinstituten dienen.[5]
  • Mikrofinanzinstitute sollten nicht in Ländern aktiv werden, in denen bereits ein Überangebot von Mikrokrediten herrscht. Das Beispiel Kambodscha zeigt, dass sich trotz strengerer Regeln, wie Zinsobergrenzen, ein Überangebot von Mikrokrediten negativ auf die Überschuldung der Haushalte auswirken kann.
  • Neben der Kreditvergabe bieten Anbieter*innen mittlerweile auch andere Finanzdienstleistungen wie Sparangebote oder Überweisungen an. Diese Entwicklung sollten Unternehmen aktiv verstärken, um Kund*innen das Sparen zu vereinfachen.

Quellen

[1] Heller, P.; 2021. The Lessons of Microcredit. In: K. Wendt­, ed., Theories of Change; Cham: Springer.

[2] Bateman, M., Blankenburg, S. und Kozul-Wright, R.; 2019. The rise and fall of global microcredit. Oxon: Routledge.

[3] Wickramasinghe, V. and Fernando, D., 2017. Use of microcredit for household income and consumption smoothing by low income communities. International Journal of Consumer Studies, 41(6), S. 647-658.

[4] Banerjee, A., Duflo, E., Glennerster, R. und Kinnan, C.; 2015. The Miracle of Microfinance? Evidence from a Randomized Evaluation. American Economic Journal: Applied Economics, S. 22-53.

[5] Lohr, Ulrike (Südwind Institut), 2022: Kleines Geld – Grosse Erwartungen. (Download)

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