Im Zeitalter des Zentral­bank­kapitalismus

Joscha Wullweber

20.07.2021

Die Aktienkurse erklimmen zurzeit unerreichte Höhen. Einige Vermögenswerte, Bitcoin etwa, haben in den letzten fünf Jahren gar eine Wertsteigerung von über 10.000 Prozent erfahren. Diese Höhenflüge haben sich vollständig von der produktiven Ökonomie – der sogenannten Realwirtschaft – entkoppelt. Ein Großteil der globalen Wirtschaft liegt noch immer am Boden, viele Unternehmen werden im Laufe dieses Jahres Insolvenz anmelden. Die Dynamiken im Finanzsystem sind also kein Zeichen einer starken Wirtschaft, die womöglich mit viel Schwung Zukunftsinvestitionen angehen würde. Im Gegenteil, sie sind Ausdruck eines Systems, das tief in der Krise steckt. Der einzige Grund, warum dieses nicht zusammenbricht, sind die Zentralbanken.

  • Notenbanken greifen stärker als jemals zuvor in das Finanzsystem ein.
  • Dies ist auch nötig, da Regierungen oft vor einer aktiven Investitionspolitik zurückscheuen.
  • Das Auf und Ab des Finanzsektors, an dem die Zentralbanken mitwirken, schadet der Realwirtschaft.

Zentralbankpolitik galt früher als langweilig. Je nach Wirtschaftslage und ökonomischen Modellen wurde der Leitzins etwas herauf- oder heruntergesetzt. Das war es im Wesentlichen. Die heutige Geldpolitik ist davon allerdings grundverschieden. Notenbanken greifen stärker als jemals zuvor in das Finanzsystem ein, mit Mitteln, die vor Kurzem noch undenkbar gewesen wären.

Kurz gesagt: Wir leben in Zeiten des Zentral­bank­kapitalismus. Das globale Finanzsystem und der Kapitalismus westlicher Industriestaaten können ohne die permanenten, unkonventionellen und umfangreichen Interventionen der Notenbanken nicht mehr funktionieren. Stellten diese ihre Maßnahmen ein, würden das Bankensystem, das globale Finanzsystem und Wirtschaftssysteme weltweit kollabieren. Die internationale Wirtschaftsordnung ist auf die lebenserhaltenen Maßnahmen der Zentralbanken angewiesen.

Zentralbanken werden immer wichtiger

Aus ordnungs­politischer Sicht bedeutet „Zentral­bank­kapitalismus“, dass es immer mehr der Staat und nicht der Markt ist, der die grundlegenden marktwirtschaftlichen Funktionen und das Geld- und Kreditsystem garantiert und aufrechterhält. Innerhalb des Staates ist es wiederum die Notenbank, die gewichtige Entscheidungen trifft, mit weitreichenden wirtschafts­politischen Implikationen. Die Regierungen scheuen vor einer aktiven Ausgaben- beziehungsweise Fiskalpolitik zurück.

Auch während der COVID-19-Pandemie geht es zumeist nur darum, die Wirtschaft zu stabilisieren, lenkende Investitions­programme werden nur zaghaft angedeutet und unzureichend angegangen. Zugleich wird betont, dass nach der Krise wieder die Politik der „schwarze Null“ gelten müsse, was de facto eine immense Reduktion der Staatsausgaben bedeuten würde. Während sich die Regierungen also zurückhalten, müssen Zentralbanken stärker als je zuvor agieren.

EZB als Retterin der Eurozone

Als am 09.03.2020 die Finanzmärkte weltweit zusammenbrachen, reagierte die US-Notenbank (Fed) umgehend und mit geballter Kraft. Sie legte ein historisches Notfallprogramm auf und stellte Kredite im Umfang von 2,3 Billionen US-Dollar zur Unterstützung der Wirtschaft bereit. Die Bank of England, die Bank of Japan, die Schweizerische Nationalbank und die Bank of China riefen ähnliche Programme ins Leben. Und während alle anderen europäischen Institutionen wie gelähmt waren oder schlicht keine effektiven Mittel besaßen, schritt auch die Europäische Zentralbank (EZB) mit aller Macht ein.

In einer beispiellosen Aktion legte sie Mitte März 2020 ein 750 Milliarden Euro schweres Pandemie-Notfallkaufprogramm auf, das später auf 1.850 Milliarden Euro erhöht wurde. Mit diesen Geldern wurden insbesondere Staatsanleihen der Mitgliedstaaten erworben. Zusätzlich wurde das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten immens ausgeweitet, auf 140 Milliarden Euro monatlich. Die EZB ist derzeit die einzige EU-Institution, die in der Lage und willens ist, einem Auseinander­brechen der Eurozone effektiv entgegenzuwirken.

Es kommt zu einer Verwischung der Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik, einer Grenze, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch eine rote Linie marktliberaler Politik markierte. Es zeigt sich allerdings zunehmend, dass diese Linie nicht mehr haltbar ist, wenn nicht der Zusammenbruch des Gesamtsystems oder das Elend eines großen Teils der Bevölkerung in Kauf genommen werden soll. Nicht zuletzt in der COVID-19-Pandemie wurde ersichtlich, dass das Einschreiten der Zentralbanken und eine großzügige Auslegung ihrer Mandate notwendig sind, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

Unzureichende, die (nachhaltige) Wirtschaft stärkende Fiskalpolitik

Doch tragen die Zentralbanken auch eine Mitschuld an den Instabilitäten des Systems. So stärken sie beispielsweise seit Jahren das Schatten­banken­system. Hierbei handelt es sich um den weitgehend unregulierten Teil des Finanzsystems, der maßgeblich für die Instabilitäten des Systems verantwortlich ist. Warum tun die Zentralbanken das?

Obwohl Notenbanken eine machtvolle Position innehaben, ist ihr Handlungs­spielraum begrenzt. Im Unterschied zur Fiskalpolitik der Regierungen, die Unternehmen und Verbraucherinnen direkt unterstützen kann, erreicht die Geldpolitik die Wirtschaft nicht direkt. Sie muss bislang den Umweg über das Finanzsystem gehen, beispielsweise über den Kauf von Wertpapieren.

Das führt derzeit aber dazu, dass diese Maßnahmen nicht bei der Produktivwirtschaft ankommen. Stattdessen wird das Geld von Finanzakteuren vor allem dazu genutzt, um innerhalb des Finanzsystems zu investieren. Die Folge sind Boom-und-Bust-Zyklen (also extrem hohe Wertpapierkurse, die anschließend wieder zusammenbrechen), die insgesamt eine stark destabilisierende Wirkung auf das Finanzsystem und auch auf die produktive Wirtschaft haben.

Im Teufelskreis gefangen

Da Regierungen sich fiskalpolitisch und regulatorisch stark zurückhalten, von dem kurzen Aufleben während der COVID-19-Pandemie abgesehen, sind die Zentralbanken und ihre Geldpolitik in einem Teufelskreis gefangen. Sie sind gezwungen permanente Stabilisierungsarbeit für das kriselnde Finanz- und Wirtschaftssystem zu leisten, während durch diese Maßnahmen die Krisenanfälligkeit tendenziell noch verstärkt wird. Nur massive und koordinierte fiskal- und geldpolitische Interventionen können diesen Teufelskreis unterbrechen und den Weg öffnen für soziale, ökologische und nachhaltige Antworten auf den Klimawandel und die vielen anderen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Gastbeitrag im Finanzwende-Blog. Die jeweiligen Autor*innen geben nicht zwangsläufig Finanzwende Positionen wieder.

 

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Joscha Wullweber

Joscha Wullweber ist Heisenberg-Professor für Politische Ökonomie, Transformation und Nachhaltigkeit an der Universität Witten-Herdecke. Sein Buch Zentralbankkapitalismus. Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten ist im Juni bei Suhrkamp erschienen.

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